NATO-Politik im Belgrader Spiegel

Von Ralph Hartmann, Berlin

Die NATO, die sich nur allzu gern als "internationale Staatengemeinschaft" ausgibt, schickt sich an, in Ex-Jugoslawien das zu vollenden, was sie seit jeher angestrebt und in den vergangenen 15 Jahren erfolgreich vorangetrieben hat: Serbien, einstmals einflußreichster Staat auf dem Balkan und später Kernland der jugoslawischen Föderation, und die Serben auf Dauer zu schwächen und, wie es Kohls Außenminister Klaus Kinkel so schön formulierte, "in die Knie zu zwingen"; getreu der Erkenntnis, daß Vor- und Fremdherrschaft auf dem Balkan nur dann gesichert werden können, wenn Serbien niedergehalten wird.

Traditionslinie Kaiser- und Hitlerdeutschlands wird fortgesetzt

Die Wurzeln dieser antiserbischen Politik, die zugleich eine antirussische ist, denn die Serben waren über einen langen Zeitraum auf der Balkanhalbinsel die wichtigsten Verbündeten Moskaus, reichen weit in die Vergangenheit. Die Entstehung eines großen serbischen Staates zu verhindern - darauf zielte das 1876 auf Initiative Bismarcks formulierte sogenannte Berliner Memorandum, "Serbien muß sterbien" lautete die Losung im Ersten Weltkrieg und die Niederwerfung der "serbischen Verbrecherclique" war eines der Kriegsziele Hitlers im Zweiten. Doch nicht die Serben wurden niedergeworfen, sondern die deutsche Verbrecherclique, und wie schon 1918 war die neuerliche Niederlage des imperialistischen Deutschlands mit dem Entstehen eines einheitlichen jugoslawischen Staates, der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien, der späteren SFRJ, verbunden. In der Folgezeit wurde dieser Staat ob seines enormen Einflusses in der Bewegung der Nichtpaktgebundenheit und seines eigenen, vom sowjetischen "Grundmodell des Sozialismus" abweichenden Entwicklungsweges auch vom Westen, und hier besonders von der bundesdeutschen Außenpolitik, heftig umworben. Doch unmittelbar nach dem schmählichen Untergang des Realsozialismus in der Sowjetunion sowie in Osteuropa setzte die BRD in ihrer Jugoslawienpolitik die Traditionslinie Kaiser- und Hitlerdeutschlands fort und nahm wesentlichen Einfluß auf die antiserbische Ausrichtung des NATO-Kurses zur Zerschlagung Jugoslawiens.

Im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts wurde diese Politik, getarnt als selbstloser Feldzug zum Schutz der Menschenrechte gegen den angeblichen großserbischen Nationalismus und später zur Verhinderung einer "humanitären Katastrophe", von der NATO Schritt für Schritt umgesetzt:

Schürung nationaler und politischer Konflikte in der jugoslawischen Föderation, Förderung separatistischer und restaurativer Kräfte in Slowenien und Kroatien, einseitige antiserbische Parteinahme in dem blutigen Bürgerkriegsgeschehen, Bombardierung serbischer Stellungen und Orte in Bosnien, Mitwirkung an der ethnischen Vertreibung der Serben aus Kroatien, verdeckte und offene Unterstützung albanischer Separatisten und Terroristen in Kosovo, 78tägiger Bombenkrieg gegen Restjugoslawien, Verwandlung Kosovos in ein Protektorat des Kriegspaktes, Mitwirkung am Sturz Milosevics und der von ihm geführten Sozialistischen Partei Serbiens, Verwandlung des föderativen Klein-Jugoslawiens in das lose Staatengebilde "Serbien und Montenegro".

Erneuter erpresserischer Druck auf Serbien

Jetzt nun werden die Vorbereitungen getroffen, das Werk der Niederwerfung der Serben und Serbiens zu vollenden. In sogenannten Statusverhandlungen sollen das von der NATO okkupierte Kosovo unter Bruch der nach der NATO-Aggression beschlossenen UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999, nach der das südserbische Gebiet integraler Bestandteil Jugoslawiens ist, endgültig aus der Republik Serbien herausgebrochen und die Republika Srpska, laut dem Vertrag von Dayton einer der beiden Teilstaaten Bosniens und Herzegowinas, mittels einer Verfassungsreform liquidiert werden, damit sich die dortigen Serben unter keinen Umständen an das serbische Mutterland anschließen können. Parallel dazu wird mit offener und verdeckter Unterstützung separatistisch-nationalistischer Kräfte in der Vojvodina, im Sandschak und in Montenegro zusätzlicher Druck auf Belgrad ausgeübt. Doch damit nicht genug. Ein starker Hebel, um die Regierenden in Serbien, die so schon weit zu Kreuze gekrochen sind, gefügig zu halten, wird von Den Haag aus angesetzt. Nachdem vom sogenannten Jugoslawien-Tribunal vor allem Dutzende von Serben zu langen Freiheitsstrafen verurteilt wurden und seit Februar

2002 ein skandalöser Prozeß gegen Slobodan Milosevic, den Präsidenten des von der NATO überfallenen Staates, sowie Verfahren gegen andere von Belgrad ausgelieferte serbische Staatsbürger geführt werden, wird immer noch erpresserisch verlangt, die Zusammenarbeit mit dem Tribunal zu verbessern.

Unter Androhung neuer Sanktionen wird vor allem die Auslieferung der der Kriegsverbrechen beschuldigten Serben Radovan Karadjic und Ratko Mladic verlangt, obwohl niemand weiß, ob sich die Gesuchten in den montenegrinischen Bergen, den bosnischen Wäldern oder in der südamerikanischen Pampa aufhalten. Erst kürzlich hat der bisherige Präsident des Tribunals, der ehrenwerte US-Amerikaner Theodor Meron, die serbische Hauptstadt aufgesucht und gedroht, daß das Land aus allen europäischen Integrationen herausgeschmissen wird, wenn es nicht Karadjic und Mladic ausliefert. Der prowestliche Präsident Boris Tadic und der national-konservative Ministerpräsident Vojislav Kostunica und mit ihnen die Mehrheit der Serben sollen weichgeklopft werden, damit sie letztlich noch dankbar sind, wenn sie in der NATO-Pfanne schmoren dürfen.

Aufschlußreiche Eingeständnisse

Doch bei weitem nicht alle Serben sehen darin das höchste Ziel ihrer Wünsche. Unmittelbar nach dem Meron-Besuch veröffentlichte die auflagenstärkste serbische Tageszeitung "Vecernje novosti", auf die Scharping-Einkleider Hombach seit langem begehrliche Blicke wirft, einen Beitrag, in dem die USA und Westeuropa, "wenn es ihnen tatsächlich um die volle Wahrheit und andauernden Frieden auf dem Balkan geht", aufgefordert werden, sich vor den Spiegel zu stellen. In ihm könnten die herrschenden Kreise des Westens, deren "einflußreichste Medien und Politiker mit allen Kräften den zwischennationalen Hader zwischen Serben, Kroaten und Moslems schürten", vieles erblicken, was ihre politischen Eliten schon 10 Jahre lang nicht sehen wollten. Das Blatt hält ihnen diesen Spiegel vor, und was er zeigt, sind Eingeständnisse von NATO-Politikern und -Journalisten, die über die bekannten Erklärungen der Außenminister der USA und Frankreichs, Warren Christopher und Roland Dumas, zur besonderen Verantwortung Deutschlands für die Entfesselung der Bürgerkriege hinausgehen und damit auch die Kenntnisse derer bereichern können, die die Zerschlagung Jugoslawiens besonders aufmerksam, mit tiefem Zorn, aber letztlich ohnmächtig verfolgt haben.

Deshalb lohnt es, mit Hilfe der "Vecernje novosti" einige Blicke in diesen Spiegel zu werfen, in dem unter anderen zu sehen und zu hören sind:

Zbigniew Brzezinski, einer der führenden Washingtoner Geostrategen, der schon Mitte August 1978 einer Gruppe von US-amerikanischen Soziologen vertraulich erläuterte: "Es liegt im Interesse der USA, allen separatistisch-nationalistischen Kräften in Jugoslawien zu helfen."

Gianni de Michelis, ehemaliger italienischer Außenminister, der eingestand:

"Wenn der Plan, den Reformversuch des letzten jugoslawischen Premiers Ante Markovic mit bis zu 3 Milliarden Ecu zu unterstützen, angenommen worden wäre, dann wäre es wahrscheinlich weder zum Zerfall noch zum Krieg in Jugoslawien gekommen. Aber dieser Plan wurde von Großbritannien abgelehnt.
...
Deutschland hatte sich gerade vereinigt, und innerhalb des Landes gab es Bestrebungen, von neuem Grenzstreitigkeiten mit Polen zu beginnen. Die Europäische Gemeinschaft unterwarf sich schließlich dem deutschen Druck, Kroatien und Slowenien anzuerkennen, damit die revanchistischen Absichten im Osten in den Hintergrund gerieten. In einem gewissen Sinne erlaubten wir den Deutschen, sich in Jugoslawien 'eine kleine Erholung' zu gönnen."

Lord Peter Carrington, Vorsitzender der Jugoslawienkonferenz, dessen an die Bonner Adresse gerichtete Warnung, daß eine frühzeitige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens "der Funke sein könnte, der Bosnien-Herzegowina in Brand setzt", allgemein bekannt ist und der später die Haltung der EG mit den Worten erklärte: "Die Notwendigkeit, eine gemeinsame Außenpolitik zu demonstrieren, führte die Europäer dazu, sich dem Vorschlag der Deutschen anzuschließen und Slowenien und Kroatien anzuerkennen. So wurden die Voraussetzungen für die Tragödie in Bosnien geschaffen. Ich hatte das gesagt und die europäischen Regierungen gewarnt, daß das den Weg zum Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen bosnischen Gemeinschaften freimacht."

Henry Kissinger, US-Außenminister, der im nachhinein einschätzte: "Den schwersten Fehler begingen die USA, Europa und die UNO, als sie einen Staat (Bosnien-Herzegowina) schufen, in dem sich ein großer Teil seiner Bevölkerung von Anbeginn an gegen die Annahme einer neuen Gemeinschaft aussprach."

Andre Fontaine, Direktor der Pariser "Le Monde", der konstatierte: "Die Anerkennung von Bosnien-Herzegowina in den von der (jugoslawischen) Föderation geerbten Grenzen war ein Fehler, der schwerwiegendste von allen ...".

Abe Rosenthal, Herausgeber der "New York Times", der feststellte: "Die bosnische Katastrophe hatte ihre Wurzel in dem vom Westen unterstützten Bestehen darauf, in die neuen Grenzen in Bosnien ein Volk einzubeziehen, das nicht von den Moslems beherrscht werden wollte."

Lord David Owen, britischer Außenminister, der die Schuldigen am blutigen Bürgerkrieg in Bosnien vor allem in Washington sieht: "Wir hatten die Möglichkeit, bereits 1993 einen Frieden zu erreichen, aber Clinton unterstützte unseren Plan nicht ...Vom Frühjahr 1993 bis Sommer 1995 hat die amerikanische Politik in der Tat den Krieg verlängert."

Nicht zu sehen sind in dem Spiegel, den das Belgrader Blatt dem Westen vorhält, die Kriegsverbrechen, die während des 78tägigen barbarischen Zerstörungskrieges der NATO verübt wurden, die sich zum Richter über die Serben aufgeschwungen hat und dabei ist, das drangsalierte Land und seine Bürger weiter zu ducken. Aber ganz so neu ist das ja nicht. Bekanntlich hatte Wilhelm II. schon 1914 erklärt: "Die Kerls müssen geduckt werden."

Antikommunismus - der wahre Kern der NATO-Politik gegenüber Jugoslawien

Unbeantwortet bleibt in diesem Spiegel auch die Frage, weshalb die USA, die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bündnispartner, vor allem Serbien, die Sozialistische Partei Serbiens und deren Vorsitzenden, Ex-Präsident Slobodan Milosevic, ins Visier nahmen. Wer darauf eine Antwort sucht, der braucht nur ein Buch in die Hand zu nehmen, das den Titel "1989 - Schicksalsjahr Jugoslawiens. Hintergründe und Ursachen eines Staatszerfalls" trägt und kürzlich im Norderstedter Verlag "Books on Demand GmbH" erschienen ist. Der in Deutschland lebende serbische Autor Dr. Djordje Joncic verwechselt zwar das Streben der USA und anderer NATO-Staaten nach Vorherrschaft auf dem Balkan und nach Restauration kapitalistischer Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse mit demokratischen Zielsetzungen, indem er zum Beispiel schreibt "Das Ziel der NATO war die Demokratisierung Jugoslawiens" und dieser Behauptung noch eins draufsetzt und allen Ernstes zu Papier bringt "Die Demokratisierung wurde somit das alleinige Leitmotiv der NATO-Politik und bestimmte das Verhältnis der NATO zu Jugoslawien und Serbien".

Dessen ungeachtet kommt der Autor zu Schlußfolgerungen, die hierzulande noch immer selten zu lesen sind. Entschieden wendet er sich gegen die Auffassung, daß der Nationalismus die treibende Kraft hinter der zerstörerischen Dynamik der Geschehnisse in Ex-Jugoslawien gewesen und von Milosevic instrumentalisiert worden sei: "Man behauptet sogar", so Joncic, "daß Milosevic alles nur aus nationalistischen Beweggründen tat. Das eigentliche Problem aber waren seine kommunistische Ideologie und er selbst als Person."

Joncic ist ein scharfer Kritiker der serbischen Sozialisten. Aber bis zu einem gewissen Punkt ist seine Argumentation schlüssig. Er teilt die Einschätzung, daß das Ende der Ost-West-Konfrontation nicht das Ende des "Konfliktes zwischen Kommunismus und Demokratie" darstellte und schreibt:

"Die Gegner der NATO-Partner waren nicht mehr der sowjetische Kommunismus und der Ostblock, sondern es war das politische System in Serbien, das heißt das kommunistische Überbleibsel in Europa ... Dieser Konflikt blieb nicht nur auf dem Niveau der Worte, so wie es zu Zeiten des 'Kalten Krieges' war, sondern der 'Kalte Krieg' verwandelte sich in einen 'heißen'. Natürlich lag der Hauptgrund darin, daß der 'Gegner' (Serbien) jetzt unvergleichbar schwächer war als der Gegner zur Zeit des 'Kalten Krieges'. Von Anfang an, oder von 1989 an, störte die NATO, daß der Politiker in Belgrad bereit war, seinen eigenen politischen Weg zu gehen. Die Sowjetunion war dabei, ihr bisheriges politisches System aufzugeben. Milosevic in Belgrad jedoch wollte sich auf keinen Fall von ihm trennen. Die NATO wollte aber keinen Sozialismus in Belgrad dulden ... Eine kommunistische Partei in Belgrad wollte jedoch mit aller Macht den Sozialismus in Serbien erhalten. Genau diese Tatsache war von Anfang an tödlich für die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und später für die Bundesrepublik Jugoslawien."

Auch wenn diese Diagnose als Hauptvorwurf an die Sozialistische Partei Serbiens (SPS), die laut dem Autor "nicht nur Jugoslawien als Föderation", sondern "unglücklicherweise auch das politische System, also den Sozialismus, erhalten" wollte, daherkommt, so trifft sie doch den wahren Kern der NATO-Politik gegenüber Jugoslawien und der jugoslawischen Tragödie, den selbst nicht wenige Sozialisten in Deutschland bis zum heutigen Tage nicht erkennen oder nicht sehen wollen. Nicht zufällig jubelten die glorreichen Sieger der Aggression gegen Jugoslawien im Oktober 2000, als mit ihrer Hilfe die SPS und ihr Vorsitzender Milosevic gestürzt wurden, daß nun endlich "der letzte Rest einer kommunistischen Diktatur gefallen ist" (BRD-Außenminister Joseph Fischer) und daß "sich das serbische Volk endgültig vom Kommunismus befreit" habe (USA-Außenministerin Madeleine Albright). So kam es endlich ans Licht: Die "internationale Gemeinschaft", von "Bild" und "FAZ" bis "Guardian" und "Times", von Fischer bis Albright, war ein Jahrzehnt lang gegen den großserbischen Nationalismus des verbrecherischen Milosevic-Regimes zu Felde gezogen, um nach vollbrachtem Werk den Sieg über die "letzte kommunistische Bastion" in Europa zu feiern.

Erst nach dem Triumph teilte sie mit, wer besiegt war: Nicht dem serbischen nationalistischen Drachen hatte man die Köpfe abgeschlagen, sondern dem letzten kommunistischen Ungeheuer in Europa.

Sicherlich wäre es übertrieben, die SPS von 1990 oder gar die von heute als kommunistische Partei oder ihren in Den Haag eingekerkerten Vorsitzenden als überzeugten Marxisten-Leninisten und Kommunisten zu bezeichnen. Aber wer die Politik der NATO gegenüber Jugoslawien und Serbien seit den konterrevolutionären Jahren 1989/90, die jetzt mit dem beabsichtigten Herausbrechen Kosovos aus Serbien, der Liquidierung der Republika Srpska und der Absicht, den ehemaligen Präsidenten Jugoslawiens trotz dessen beeindruckender Selbstverteidigung und der fortwährenden Pleiten, Pech und Pannen der Anklage im beschleunigten Verfahren zu verurteilen, fortgesetzt wird, aufmerksam und unvoreingenommen verfolgt, wird leicht erkennen, daß sie sich unter anderem aus zwei Quellen speist: aus einem historisch gewachsenen, nahezu irrationalen Serbenhaß und einem stupiden, aber äußerst zielstrebigen Antikommunismus. Daran ändern auch die Worthülsen "Demokratie", "Freiheit", "Fortschritt" und "Schutz der Menschenrechte" nichts, die sich die NATO in ihrem Feldzug auf dem Balkan auf die Fahne geschrieben hat.