Die USA, Afghanistan und der Irak: Was ist das Völkerrecht noch wert?

jW sprach mit dem Völkerrechtler Norman Paech, Professor für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik Hamburg

F: Vor Jahresfrist, kurz nach dem 11. September 2001, sprachen Sie in einem jW-Interview einmal davon, daß »die USA die Vereinten Nationen nur dann benutzen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen«. Die seither vergangenen Monate haben Ihnen offenbar recht gegeben - siehe Afghanistan, siehe den jüngsten Großangriff auf Ziele im Irak. Das waren empfindliche Schläge ins Gesicht aller Gegner kriegerischer Lösungen.

In der Tat. Der seit 1998 heftigste militärische Angriff auf logistische Einrichtungen der Irakis, bei dem über hundert Kampfflugzeuge am vergangenen Freitag eine Radar- und eine Flugabwehrstation westlich von Bagdad bombardiert und wahrscheinlich zerstört haben, gilt allgemein als Vorbereitung des für sicher angesehenen nächsten Krieges gegen den Irak.

F: Was sagt der Völkerrechtler zu solchen unerklärten Kriegen - die USA und Großbritannien maßen sich ja schon seit 1993 an, in den von ihnen selbst zu Flugverbotszonen erklärten Gebieten nach Belieben zu operieren. Können sich die beiden NATO-Mächte in irgendeiner Weise auf das Völkerrecht berufen?

Auf die UNO-Charta in keinem Fall. Sie berufen sich auf den angeblichen Schutz der Kurden im Norden und der Schiiten im Süden Iraks. Zur Vorbereitung des großen Krieges sprechen sie von präventiver Selbstverteidigung gegen die Möglichkeit eines Einsatzes von Massenvernichtungswaffen durch den Irak. Darauf setzt jetzt auch die umfangreiche Medienpropaganda. Und dann soll es Bagdads Weigerung sein, Waffeninspekteure ins Land zu lassen.

F: Wobei nicht vergessen werden soll, daß der Irak ja erklärtermaßen durchaus bereit zu Inspektionen ist, eben nur nicht zu den von Washington diktierten, diskriminierenden Bedingungen oder garniert mit erpresserischen Forderungen. Es hat den Anschein, als suchen die USA noch einen irgendwie völkerrechtlich legitimierten Vorwand, um »richtig« losschlagen zu können.

Interessant an diesen Vorgängen ist, daß die USA noch nicht soweit sind zu sagen: Wir brauchen unsere Kriege nicht zu begründen. Vielmehr versuchen sie immer noch - auch, um eine Koalition hinter ihre Vorhaben zu bekommen -, dieses mit dem Völkerrecht zu begründen. Sie bemühen dazu das in Artikel 51 der UN-Charta fixierte Recht auf Selbstverteidigung. Nur: Sie reden von präventiver Selbstverteidigung vor einem möglichen Angriff mit Massenvernichtungswaffen ...

F: ... deren Existenz sie unentwegt behaupten, ohne dafür einen Beweis vorgelegt zu haben oder vorlegen zu können.

Davon abgesehen: Jede Begründung einer präventiven Selbstverteidigung ist völkerrechtlich Unsinn. Als Israel vor rund 15 Jahren mit ähnlichen Argumenten irakische Atomreaktoren bei Tuwaitha angegriffen hatte, wurde es von der UNO verurteilt und sein Verweis auf präventive Selbstverteidigung als unzulässige Berufung auf das Völkerrecht zurückgewiesen. Oder nehmen Sie die Reaktionen der USA nach dem Anschlag auf die Westberliner Diskothek La Belle im Jahr 1986: Sie bombardierten umgehend libysche Ziele in Benghazi und Tripolis mit der ausdrücklichen Zielsetzung, Ghaddafi zu beseitigen. Die UNO hat Washingtons Rechtfertigung der präventiven Verteidigung gegen den Terrorismus sofort als Verstoß gegen die völkerrechtlichen Prinzipien zurückgewiesen. Vom absoluten Gewaltverbot des Artikel 2, Ziffer 4 sind in der UN-Charta lediglich zwei Ausnahmen vorgesehen: Das erste ist das schon erwähnte Recht auf Selbstverteidigung, und das zweite ist das im Kapitel VII in den Artikeln 39 bis 42 allein dem UN-Sicherheitsrat zugebilligte Recht, bei einer Bedrohung des Friedens oder bei Angriffshandlungen Beschlüsse über ein militärisches Vorgehen gegen andere Staaten zu fassen. Ein Angriff gegen einen befürchteten oder erwarteten Angriff aber eröffnet jeder Kriegstreiberei und jedem Krieg Tür und Tor.

F: Gehen die USA wirklich so blauäugig an diese lebenswichtige Fragen von Krieg und Frieden heran?

Daß derartige präventive Interventionen und präventive Selbstverteidigung unzulässig sind, wissen natürlich auch die USA. Deshalb verweisen sie ja parallel dazu auf die Weigerung Bagdads, die Waffeninspekteure wieder ins Land zu lassen. In den entsprechenden Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates steht allerdings nicht, daß die Rückkehr der Inspekteure auch militärisch durchgesetzt werden kann; die UN-Charta ist geradezu von der Ratio beseelt, Krieg soweit wie möglich auszuschalten. Nur der militärische Angriff erlaubt eine militärische Antwort. Alle anderen Völkerrechtsverletzungen mögen juristische Verfahren, auch Repressalien wie Embargos oder Boykotts nach sich ziehen. Würde man Verletzungen des Völkerrechts immer gleich mit militärischen Angriffen ahnden, wäre der Nahe Osten schon lange im Krieg versunken.

F: Bleibt die Frage: Was tun, wenn sich die USA nicht daran halten?

Im Zeichen des »Krieges gegen den Terror« wurde in den USA - vornehmlich von vielen Intellektuellen - mit moralischen Kategorien, den »american values« und dem »gerechten Krieg« argumentiert; es ginge darum, eine unerträgliche Situation in einem Land zu beenden - da es nicht anders möglich sei, eben mit Gewalt. Das knüpft an den Überfall der NATO 1999 auf Jugoslawien an, um eine »humanitäre Katastrophe« zu vermeiden - die dann allerdings hinterlassen wurde. Es handelte sich weder um einen Akt der Selbstverteidigung noch gab es ein UNO-Mandat; man hatte es ja auch bewußt vermieden, den Sicherheitsrat anzurufen.

F: Wurde damals, 1999, mit moralischen bzw. moralisch verbrämten Begriffen wie humanitäre Katastrophe versucht, das Völkerrecht auszuhebeln bzw. zu umgehen?

Eine »humanitäre Intervention« ist die Umgehung des Gewaltverbots mit anderen Mitteln und der hoffentlich vergebliche Versuch, Interventionen überhaupt wieder in das Völkerrecht zu integrieren. Wozu diese Versuche dienen, wird klar, wenn man sie hinterfragt. Dann kommt sehr bald ans Tageslicht, welche wirklichen Interessen hinter dem »gerechten Krieg« verborgen sind. Das gilt für Jugoslawien wie für Afghanistan oder Irak. Erinnern Sie sich an die im April 1999 in Washington beschlossene neue Strategie der NATO; dort sind die Gründe und Ziele zukünftiger Kriege eindeutig und ohne humanitäre Verklärung aufgeführt.

F: Das stimmt alles nicht eben optimistisch für die Zukunft. Sehen Sie dennoch eine Kraft, die die auf Krieg versessenen Mächte in ihre Schranken weisen kann? Das sind ja nicht zuletzt die Schranken des Völkerrechts?

Es hat tatsächlich den Anschein, daß derzeit keiner die USA stoppen kann und das Völkerrecht im Augenblick in einer tiefen Krise ist. Doch dabei darf man die andere Seite der Medaille nicht außer acht lassen und die Dinge auch nicht immer nur in den Grenzen eines Menschenlebens sehen. Seit der Hochzeit des Kolonialismus ist es bis hin zu den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg immerhin Schritt für Schritt und trotz aller Rückschläge gelungen, der Welt ein Gerüst zivilisierter zwischenstaatlicher Normen zu geben. Wenn wir heute wieder jemanden haben - ja nicht zum ersten Mal -, der aus diesem Gerüst ausbricht, haben wir gar keine andere Alternative als die des Widerstandes, als aufzuklären und, was uns Völkerrechtler betrifft, an den Instrumenten zur Bändigung von Gewalt und Krieg festzuhalten. Wer kann garantieren, daß wir noch ein Einlenken der USA erleben werden? Doch wir dürfen nicht aufhören, die Prinzipien des Kriegsverbots, des Gewaltverzichts, des Friedens und des Rechts zu propagieren und durchzusetzen versuchen.

* Norman Paech/Gerhard Stuby: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Ein Studienbuch. VSA-Verlag Hamburg 2001, 980 Seiten, 50 Euro

Interview: Peter Rau