Eure Kritik an Nina Hager

Liebe Genossinnen und Genossen,

für euer Online-Gästebuch ist nachstehender Kommentar leider zu lang, aber ich will ihn euch nicht vorenthalten.

Liebe Genossinnen und Genossen, mit Interesse habe ich euren (anonymen) Beitrag zur Kritik an Nina Hager gelesen. Ich finde es gut und notwendig, die Debatte über die in der DKP bestehenden Differenzen öffentlich zu führen.

Was den Inhalt angeht: Auch ich sehe die Positionen von Nina Hager sehr kritisch und glaube, dass sie wenig geeignet sind, Perspektiven einer kommunistischen Partei zu begründen. Aber was ihr der Genossin entgegenhaltet, das ist noch weniger dazu angetan, so dass ich Nina fast schon wieder verteidigen muss. Ich bin im Jahr 2000 nach langem Zögern in die DKP eingetreten, weil die DKP immer noch die am besten ausgestattete kommunistische Kraft in Deutschland ist und ich versuchen möchte, aus der DKP Potenziale zu gewinnen und Potenziale in sie einzubringen, die in einem künftigen Prozess der Neuformierung der klassenkämpferischen, revolutionären und radikalen Linken etwas Substanzielles beisteuern können. Bei der Strömung, die Nina Hager repräsentiert, sehe ich wenig Perspektiven, aber wenn ich betrachte, was die "orthodoxe" Opposition, für die euer Beitrag steht, dem entgegenhält, gelange ich unweigerlich zu einer sehr pessimistischen Einschätzung der Perspektiven der Partei.

Ich möchte zunächst den Punkt anführen, wo ich euren Thesen - ich sage eure, da der Autor nicht genannt wird - voll und ganz zustimme, nämlich in der ganz am Schluss angeführten Frage der Warenproduktion. Wir stimmen hier voll überein: Warenproduktion ist als entwickelte ohne Kapitalismus nicht zu haben, und das Ziel von KommunistInnen ist eine Gesellschaft ohne Warenproduktion und ohne Markt, in der die Proportionalität der gesellschaftlichen Arbeit nicht über den Umweg von Ware-Geld-Beziehungen, sondern durch bewusste Planung geregelt wird. Dieses Ziel ist heute, auf der Basis der heutigen Produktivkraftentwicklung, vielleicht aktueller denn je zuvor. Gerechterweise muss man allerdings zugeben, dass die wissenschaftlichen Grundlagen einer hoch entwickelten, komplexen Produktion ohne Wert- und Warenform bislang nicht geklärt sind und auch nicht einfach aus dem Ärmel geschüttelt werden können. (Interessant sind hierzu die Arbeiten des Genossen Wolf Göhring aus Bonn über die Aufhebung der Warenproduktion mittels Informatik.) Ich stimme mit euch überein, dass wir dieses von Marx durch Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus ex negativo bestimmte Ziel als grundlegende Perspektive ansehen müssen, statt "revisionistische" Konstruktionen einer "sozialistischen Warenproduktion" zu basteln.

Fast alles andere in eurem Beitrag führt nach meinem Dafürhalten eher in eine Sackgasse. Ich kann das hier nur knapp andeuten. Es fängt an mit der Frage der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Zur Frage des Charakters der "sozialistischen" Gesellschaften der UdSSR usw. möchte ich nur andeuten: Ihr wisst, von wem die Einschätzung, dort habe in den 50er Jahren eine "revisionistische" Entwicklung eingesetzt, stammt, nämlich von Mao Zedong. Über diese in "moskautreuen" Parteien wie der DKP bis 1989 strikt verpönte These kann und sollte man diskutieren. Das kann man aber, wenn man nicht bei platten Agenten- und Verschwörungstheorien landen will, nur tun, wenn man die Frage nach den ökonomischen und politischen Strukturen dieser Länder, die Frage nach der Bürokratie stellt - Mao war hier, obwohl er Stalin weitgehend verteidigte, nicht ganz so weit von Trotzki entfernt -, und man wird noch weiter gehen und die Frage nach den Problemen stellen müssen, die damit zusammenhängen, dass der "Sozialismus" in der UdSSR (und China) vor allem die politische Form war, in der sich eine nachholende ursprüngliche Akkumulation vollzogen hat. Man wird fragen müssen, ob der "Revisionismus" seine wirklichen Ursachen nicht bereits in den von Stalin seit Ende der 20er Jahre durchgesetzten Strukturen hat. Und schließlich wird man sich der Frage stellen müssen, wieso es denn gegen die schmähliche Liquidation der Sowjetunion, der DDR usw. keinerlei nennenswerten Widerstand aus der Bevölkerung gegeben hat. Zu einer wirklich erhellenden Analyse der Leistungen dieser Gesellschaften, ihrer dramatischen Fehlentwicklungen und der Gründe ihres Niedergangs steuert eure Sichtweise nichts bei.

Auch eure Behauptung, in der kapitalistischen Welt habe es in den letzten Jahrzehnten keine grundlegenden Veränderungen gegeben, da ja die Eigentums- und Klassenverhältnisse sich nicht geändert haben, ist ausgesprochen dürftig. Denn die konkrete Regulationsweise der kapitalistischen Verhältnisse macht, im Zusammenhang mit einem grundlegenden Schub der Produktivkraftentwicklung und ihren spezifischen Widersprüchen, enorme Veränderungen durch, die man wirklich nicht einfach damit erklären kann, dass die Bourgeoisie nach dem Wegbrechen des "sozialistischen Lagers" durch eine von Opportunisten angezettelte "Konterrevolution" ihre Herrschaft hemmungsloser durchsetzen kann als vorher. Die veränderten Klassenkampfbedingungen haben doch viel tiefere Dimensionen. Denn sie haben etwas mit Veränderungen der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital zu tun, während euer Argument sich einfach in der formellen Subsumtion festbeißt. Die Veränderung von der "fordistischen" zur "postfordistischen" Regulationsweise, die tiefe Krise der politischen Repräsentationsformen, der Wandel von Lebensweisen, das weltweit alternativlose Durchgreifen der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise, all das sind Elemente eines Prozesses, der die Voraussetzungen unseres Handelns zutiefst verändert. Das Schlimme an der DKP ist, dass sie nicht nur keine intelligenten Analysen zu diesen Fragen hat, sondern dass große Teile der Partei sogar solche intelligenten Analysen vehement abwehren, weil sie wissen, dass sie mit dem Dogmensystem des "Marxismus-Leninismus" in Konflikt geraten und (letztlich aus eigenen ideologischen Identitätsbedürfnissen heraus) dessen Konservierung als quasi-religiösem Glaubensinhalt die Priorität zumessen.

Die ganze Unbeholfenheit der Debatte zwischen den beiden Hauptströmungen der DKP wird am Umgang mit dem Begriff "Arbeiterklasse" deutlich. Bei euch heißt es: "Darauf zu achten, dass künftig der überwiegende und richtungsweisende Teil der Mitglieder aus der lohnabhängigen, im Produktions- und Ausbeutungsprozess stehenden Klasse besteht, die ihre täglichen diesbezüglichen Erfahrungen macht, sollte ... wesentliches Anliegen, Pflicht der Partei der Arbeiterklasse sein." Diese Bedingung ist in der DKP einfach deshalb nicht erfüllt, weil den größten Anteil ihrer Mitgliedschaft, in deren Schrumpfungsprozess die Talsohle zweifellos noch längst nicht erreicht ist, die RentnerInnen stellen. Ansonsten umfasst die ArbeiterInnenklasse im Sinne von Marx, nämlich als Gesamtheit derjenigen, die durch lohnabhängige Arbeit das Kapital produzieren, in Mitteleuropa etwa 80 Prozent der Bevölkerung. Insofern sind Nina Hagers Überlegungen über Bündnisse mit "völlig neuen sozialen und politischen Kräften" in der Tat etwas schief gewickelt. Sicher wird sich, darin stimmen wir wohl überein, am Faktum der Lohnabhängigkeit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nichts ändern, insofern ist nicht einzusehen, was für Kräfte außerhalb der LohnarbeiterInnenklasse denn hinzukommen sollen. Das entscheidende Problem, in Bezug auf welches Ninas Position allerdings wiederum ein richtiges Moment enthält, besteht darin, dass diese LohnarbeiterInnenklasse, die übrigens tatsächlich niemals homogen war, in sich Prozesse der Veränderung und Neuzusammensetzung durchmacht, aus denen neue Subjektivitäten und neue Bewegungen, neue Widersprüche und neue Bedürfnisse hervorgehen. Mit den Gebetsmühlen der "wissenschaftlichen Weltanschauung" des "Marxismus-Leninismus" ist dem nicht auf die Spur zu kommen. Dafür bedürfte es einer vorurteilslosen Einlassung auf diejenigen neueren marxistischen und anderen kritischen Theorien, die die Gralshüter der quasi-kirchlichen "Weltanschauung" immer abgewehrt haben, und vor allem: Es wäre nötig, von sozialen Bewegungen zu lernen; zu verstehen, was die kleine, aber immerhin mittlerweile doch wieder wachsende Minderheit, die sich gegen das Delirium des bürgerlichen Systems auflehnt, umtreibt; auch zu verstehen, warum die neuen Bewegungen, die zwar kaum in Deutschland, aber doch etwa in Frankreich oder in Italien auf den Plan treten, zu den alten Politikmodellen kommunistischer Traditionsparteien Distanz halten.

Euer Warten auf eine "extrem polarisierte Klassenstruktur ..., bei der sich auf der einen Seite die Arbeiterklasse, auf der anderen Seite die Klasse der Produktionsmittelbesitzer ausmachen lässt, eine Klassenstruktur, bei der dann nur noch eine Frage steht: Wer wen?" setzt auf eine Abstraktion, die von allen realen Bedingungen und Modalitäten gesellschaftlichen Handelns absieht. Und erst recht bezeugt ein Satz wie "Genau diese Menschen haben ... außerdem vor allem ein Recht zu wissen, dass der Sozialismus nach den bisherigen Erfahrungen für sie allemal besser als der ausbeutende, ausplündernde kriegslüsterne und alles pervertierende Kapitalismus und Imperialismus ist" die Ohnmacht und Perspektivlosigkeit eurer Position: Die Menschen, die konkret die "bisherigen Erfahrungen" mit dem "Sozialismus" gemacht haben, der sie nicht wirklich zu überzeugen vermochte, haben, wie ich oben schon sagte, der Zerstörung dieser Gesellschaftsordnung nichts entgegengesetzt, und sie machen keine Anstalten, den Sozialismus zurückzuerobern. (Die KPRF, zahlenmäßig stärkste Nachfolgepartei der KPdSU, glaubte in den ersten Jahren ihres Bestehens, sie könne Jelzin stürzen, die Macht zurückerobern und den Sozialismus wieder herstellen; als daraus nichts wurde, setzte sich an ihrer Spitze der rechte Sjuganow mit seiner "patriotischen" Linie durch, die auf "russische Staatlichkeit" und "russische Spiritualität" im Bündnis mit nationalistisch-konservativen Kräften setzt.)

Eure Position beinhaltet einen tiefen Widerspruch in sich. Einerseits werft ihr Nina Hager vor, sie vertage den Sozialismus auf eine unbestimmte Zukunft und verlege die Aktivität von KommunistInnen bis dahin in Richtung Reformismus. Andererseits vermag eure Position aber letztlich nichts anderes, als auf jene "extrem polarisierte Klassenstruktur", in der "die Partei" dann die Frage "Wer wen?" beantwortet, zu warten. Völlig im Dunkel bleibt bei euch die Frage nach den konkreten Triebkräften, die eine Bewegung mit der Perspektive kommunistischer Emanzipation fördern. Wenn wir uns darauf einlassen, müssten wir ganz andere Fragen diskutieren. Dann würden wir zum Beispiel darauf stoßen, dass es anachronistisch ist, den Sozialismus als Verwirklichung eines "Rechts auf Arbeit" aufzufassen, weil sich in heutigen emanzipativen Bewegungen direkt das Thema stellt, das das eigentliche von Marx war, nämlich das der Emanzipation von der Lohnarbeit, die Frage eines anderen Verhältnisses von Arbeit und Leben.

Aber ihr "orthodoxen" Kritiker des "Revisionismus" verlegt, um euch ja nicht auf die mit eurem Glaubenssystem inkompatiblen Realitäten einlassen zu müssen, die Frage der Revolution letztlich auf die Ebene geschichtsphilosophischer, "weltanschaulicher" Glaubenssätze. Dort bleibt sie wirkungslos. Werfen wir einen Blick ins Nachbarland Frankreich: Dort ist die FKP zu einer sozialdemokratischen Regierungspartei degeneriert. Auf der wahlpolitischen Ebene ist eine trotzkistische Linksopposition erstarkt; aktuelle Umfragen räumen der LO-Kandidaten Arlette Laguiller ein Potenzial von über zehn Prozent Stimmen ein. (Sie verdankt ihre Popularität wohl vor allem ihrer persönlichen Integrität, ihrer bescheidenen Lebensweise, die sie gerade in der sehr elitären politischen Kultur Frankreichs hervorstechen lässt.) Aber die eigentliche Avantgarde der sozialen Bewegungen in Frankreich sind die linksalternativen SUD-Gewerkschaften, die mit dem hierarchisch-vertikalen, bürokratischen Politikmodell der alten Gewerkschaftsapparate und mit dem Produktivitätspakt zwischen Lohnarbeit und Kapital gebrochen haben und die Frage nach einer gesamtgesellschaftlich vernünftigen Organisation der Arbeit praktisch aufwerfen. Die Organisation, die am ehesten den Anschluss an diese Bewegung gefunden hat, ist die undogmatisch-trotzkistische LCR (eine kleine, aber junge Organisation, Altersdurchschnitt 35 Jahre); in Italien hat die respektable Rifondazione comunista gegen den Widerstand ihres "orthodoxen" Minderheitsflügels den Zugang zu den GlobalisierungsgegnerInnen und Sozialforen und den linksalternativen COBAS-Gewerkschaften finden können. Das kann eine kommunistische Organisation nur leisten, wenn sie sich auf die vielschichtigen Widersprüche und Widerstandspotenziale der Gesellschaft von heute einlässt. Davon ist die DKP Lichtjahre entfernt - natürlich auch deshalb, weil sich in der deutschen Gesellschaft allzu wenig regt, aber ebenso wegen ihrer geistigen Unbeweglichkeit, ihrer Neigung, sich als Glaubensgemeinschaft zu definieren, die andere belehren will, statt selber zu lernen.

Wenn sich in der DKP eine Richtung durchsetzt, die dem Konservieren letztlich geschichtsphilosophischer Glaubenssätze den Vorrang zuweist in der Hoffnung, diese irgendwann einer "extrem polarisierten Klassenstruktur" andienen zu können, wird sie auf dieser Ebene mit esoterisch-folkloristischen Sektenorganisationen wie MLPD oder Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD usw. konkurrieren müssen. Mir wäre das zu wenig.

Das Schlimmste in eurem Text aber sind Sätze wie "Allein eine solche Frage (sei sie auch nur rhetorisch!) bedeutet für jeden überzeugten revolutionären Kommunisten eine Provokation". Ich verstehe mich durchaus als überzeugter revolutionärer Kommunist. Aber ich sehe keine Provokation, sondern unsere einzige Chance darin, dass die Menschen Fragen stellen, zu denen wir gemeinsam mit ihnen Antworten erarbeiten müssen. Die Antworten der Genossin Nina Hager überzeugen mich so wenig wie euch. Aber eure Antworten überzeugen mich noch weniger, weil es auf Parteichinesisch formulierte Antworten nach jenem Muster "Keiner fragt, Politiker antworten" sind, die gerade viele in gesellschaftlichen Fragen sensible Menschen leid sind.

Ich fasse zusammen: Überlegen ist eure Position der von Nina Hager aus meiner Sicht darin, dass die kommunistische Zielperspektive (Aufhebung der Warenproduktion usw.) bei euch klarer gefasst ist, während sie bei Nina durch einen obskuren "Sozialismus" mit Warenproduktion usw. ersetzt ist. Aber eure dogmatisch-gereizte Abwehr gegen alle Fragen, die darauf zielen, die Perspektive von Marx unter neuen Bedingungen, deren Neuheit ihr aus Angst, die "reine Lehre" zu verraten, einfach nicht sehen wollt, neu zu fassen, fällt noch hinter das, was bei Nina an Reflexion vorhanden ist, zurück. Ich sehe die Einschätzung des Ostberliner Schriftstellers Gerhard Branstner bestätigt, der feststellt, dass die kommunistische Bewegung aus der Sackgasse der Spaltung in "Altgläubige" und "Revisionisten" entkommen muss. Die Hauptgefahr, so Branstner, ist heute der Revisionismus, die Sozialdemokratisierung, die Aufgabe kommunistischer Grundbestimmungen. Aber die "Altgläubigen" können dem nichts entgegensetzen, weil sie nicht verstehen, warum der Revisionismus gerade aus ihrem eigenen Stall hervorgegangen ist. Wenn es uns nicht gelingt, eine linke Alternative zu "Revisionisten" und "Altgläubigen" zu entwickeln, werden die Tage der DKP gezählt sein.

Mit kommunistischen Grüßen

Henning Böke (DKP Frankfurt)