Resonanzen auf Kritik

Soweit mir bekannt, gibt es bisher zwei schriftliche Stellungnahmen zu meinem Beitrag, die sich selbst exakt spiegelbildlich gegenüberstehen. Während die erste (aus Frankfurt a. M.) eine allgemeine Ablehnung, insbesondere der Standpunkte und Vorgehensweise meiner Kritik, die den Auffassungen und Vorstellungen der Gen. Hager nichts entgegenzusetzen habe, darstellt, hingegen die kurze Erklärung zur Auflösung der Warenproduktion in einem künftigen Sozialismus offenbar voll und ganz teilt, stimmt die zweite (aus Berlin [per E-Mail]) meiner Kritik allgemein und weitgehend zu, lehnt aber die vollständige Negierung der Warenproduktion in einem künftigen Sozialismus ab. Alle drei Standpunkte erteilen aber eine ziemlich klare Absage an Auffassungen und Vorstellungen, für die Nina Hager nur repräsentativ ist.

Die erste kritische Reaktion hat mich dazu bewogen, in sehr gedrängter Form meine Rezeption von Dogmatismus und Revisionismus darzulegen und eine erläuternde Stellungnahme zur Kritik durch den betreffenden Genossen zu verfassen. Der Inhalt steht in direktem Zusammenhang mit der Programmdebatte und bereits formulierten Programmentwürfen, dem sich folgerichtig ein entsprechender Antrag anschließt, die konsequente und dauerhafte Bekämpfung des Revisionismus als Programmpassage in das zukünftige Parteiprogramm der DKP aufzunehmen. Ich bitte alle Genossen sehr herzlich, über diesen Vorschlag nachzudenken, da er nicht nur aktuelle, sondern auch Bedeutung für die Zukunft haben dürfte.

Die zweite Position (Berlin) kann wunschgemäß (zunächst?) im Dialog diskutiert werden.

Zum Verhältnis von Revisionismus und Dogmatismus

Der indische Kommunist Sitaram Yechury äußerte einmal sinngemäß: Die Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung zeigt, daß ideologische Abweichungen wie der Revisionismus den Marxismus-Leninismus seines revolutionären Inhalts beraubten, während Dogmatismus ihn seiner wissenschaftlichen Grundlage entledigte. Ohne Abstriche an dieser Aussage zu machen, könnte man Dogmatismus und Revisionismus in dem zitierten Satz auch ohne weiteres die Plätze tauschen lassen.

Der Revisionismus entzog jener Wissenschaft (die wir, vielleicht etwas verkürzt, "Marxismus-Leninismus’ nennen - und die ja eigentlich aus mehreren, von ihren Begründern revolutionär entwickelten Wissenschaften hervorgegangen ist) oft schleichend, aber fast immer systematisch, Schritt für Schritt deren Grundlagen (siehe z. B. die spätere politisch-ideologische Entwicklung der KPdSU), um eines Tages behaupten zu können, der Marxismus-Leninismus besäße keine "Allgemeingültigkeit’, er sei eine veraltete, verstaubte, verrottete, überholte "Ideologie’ - und schließlich: er sei überhaupt keine Wissenschaft, widerlegt, ungültig, nicht anwendbar und habe daher keinerlei Existenzberechtigung. Hier waren (letztendlich ökonomisch motivierte) gesellschaftliche Triebkräfte am Werk, die nicht das geringste Interesse an einer fortgesetzten Anwendung des Marxismus-Leninismus, an seiner Praxis, geschweige denn einer tatsächlichen theoretischen Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus hatten, sondern ganz andere Interessen vertraten und entgegengesetzte Ziele verfolgten. Aufgrund seiner Allgemeingültigkeit als Wissenschaft, und daher der selbstverständlichen internationalen Verbreitung des Marxismus-Leninismus, welcher der ökonomischen, gesellschaftlichen, historischen und politischen Analyse dient, den einzig effektiven Leitfaden und die einzig realistische Perspektive der internationalen Arbeiterklasse darstellt, ihre Interessen zum Ausdruck bringt und ihre historischen Aufgaben nachweist, ist auch der Revisionismus auf der ganzen Welt verbreitet. Taktik und Strategie revisionistischer Politik hängen dabei vom jeweiligen Umfeld, der Situation und der gegebenen Gesellschaftsordnung ab. Wenn der in einer kapitalistischen Gesellschaft herausgeformte Revisionismus es sich zur anspruchsvollen Aufgabe macht, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse letztlich zu zementieren, zu diesem Zwecke eine Reformpolitik feilbietet, von der er behauptet, daß sie grundlegende gesellschaftliche Veränderungen bewirken könne, fühlt er sich in sozialistischen Ländern dazu berufen, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern - und zwar ebenfalls durch eine entsprechende Reformpolitik, von der er behauptet, daß sie den Sozialismus entwickele oder ihn auf eine neue Stufe hebe. Er kommt somit zu sich selbst. Revisionistische Kräfte reflektieren nicht einfach nur längst überkommene Anschauungen und ideologische Hintergründe aus dem Nichts, sondern haben ganz konkrete ökonomische Wurzeln. Ohne hier näher darauf eingehen zu können, sei nur auf das damals in der Sowjetunion für einen längeren Zeitraum noch notwendige Weiterbestehen von Ware-Geld-Beziehungen auf der einen, der Staatlichkeit auf der anderen Seite hingewiesen. Dies sollte übrigens nicht verhindern, die internationale, äußere Seite zu betrachten, die zu jeder Zeit in einer dialektischen Wechselwirkung mit den internen Verhältnissen der Sowjetunion stand. Der äußere politische Einfluß des Revisionismus, insbesondere der Sozialdemokratie, der ökonomische Druck des Imperialismus, die politischen, diplomatischen und propagandistischen Einflüsse, auch seine geheimdienstlichen Aktivitäten und die unablässige militärische Bedrohung dürfen keinesfalls vollständig ausgeblendet werden, wenn man z.B. den Sieg des Revisionismus in der UdSSR gründlich und allseitig erklären will.

Dogmatismus wird von Menschen praktiziert, die dazu übergegangen sind, den Marxismus-Leninismus als etwas Abgeschlossenes, Statisches, Äußeres zu betrachten, die in jeder "prekären’ Situation einen Lehrsatz (ein "Dogma’) parat haben, der unreflektiert, einseitig und undialektisch Anwendung finden soll und gerade deshalb zu einer falschen Aussage wird. Diese Auffassung und Vorgehensweise ist alles andere als wissenschaftlich, alles andere als revolutionär und bringt die kommunistische Bewegung keinen Schritt weiter, sie ist unproduktiv, wirkungslos und ruft bestenfalls Unmut hervor. "Dogmatismus’ ist jedoch, im Gegensatz zum Revisionismus, keine "politische Strömung’ im engeren Sinne und hat keine dem Marxismus-Leninismus allgemein feindliche Klassengrundlage.

Marxismus-Leninismus ist gerade keine Ansammlung von "Dogmen’ oder eine festgefügte Gesetzestafel, keine von Zeit und Raum abgeschottete, keine esoterische oder eklektische "Theorie’, sondern stellt in erster Linie eine wissenschaftliche Methode dar, welche ein umfangreiches und leistungsfähiges Instrumentarium bietet, die Welt zu erkennen und sie bewußt zu verändern. Wie in jeder Wissenschaft gab und gibt es selbstverständlich auch hier Entdeckungen, grundlegende Erkenntnisse, logische Schlußfolgerungen und Ableitungen. Der Revisionismus jedoch startet immer wieder den Versuch, gerade diese Erkenntnisse, Schlußfolgerungen und allgemeinen Grundsätze, die man letztlich nicht bestreiten kann, zu widerlegen. (Analog könnte man etwa die Tatsache bestreiten, daß sich der Planet Erde um das Zentralgestirn dreht, oder als wolle man beispielsweise leugnen, daß objektiv der Regen von oben nach unten fließt, um schließlich das Prinzip der Gravitation schlechthin zu negieren.) In seinem Kampf gegen die Grundlagen des Marxismus-Leninismus saugt der Revisionismus alle möglichen und unmöglichen "Theorien’, Scheinargumente und Stimmungen in sich auf, hält dabei aber selbst durchaus an bestimmten Dogmen fest, nämlich an bürgerlich-liberalen Vorstellungen und "Werten’ der bürgerlichen Gesellschaft. Das eigentlich Gefährliche am Revisionismus ist, daß er auf dem Boden des Marxismus-Leninismus kämpft - und daher nicht immer sofort und leicht zu erkennen ist. Er läßt die Masken erst dann endgültig fallen, wenn seine Erfolge vorerst unumkehrbar gemacht worden sind.

In kommunistischen Parteien ist Dogmatismus im allgemeinen eine Reaktion auf die strebsamen Versuche des Revisionismus, marxistisch-leninistische Grundlagen in Frage zu stellen oder die Existenz bestimmter Gesetzmäßigkeiten zu leugnen. Dogmatismus gedeiht vor allem in Anwesenheit von Revisionismus, verbeißt sich in ihn und verfestigt sich. Der undialektische Dogmatismus gerät bei seiner Art der Bekämpfung des Revisionismus unweigerlich in die Defensive und wird dabei wiederum zu dessen nachwachsender Nahrung. Der moderne Revisionismus wetzt seine Messer am Dogmatismus, um dem Marxismus-Leninismus an die Kehle gehen zu können. Er stellt sich selbst zunächst als eine "Weiterentwicklung’ dar und als die "schöpferische’ Anwendung der Lehren von Marx, Engels und Lenin, behauptet, daß "grundlegende’, "vollständig neue’ und "andere’ Verhältnisse und Entwicklungen eingetreten seien (zur Not erfindet er sie auch), welche der vorgeblich "veraltete’ Marxismus-Leninismus nicht mehr erklären und deren Probleme er nicht mehr lösen könne, um im weiteren Verlauf "Korrekturen’ an ihm vorzunehmen, während er grundsätzlich alles, was ihm dabei widerspricht, dreist und stereotyp als "dogmatisch’, "mechanisch’, "doktrinär’, "starrsinnig’, "dumm’ u.s.w. verurteilt. Das eigentliche Ziel seiner Diffamierungen ist dabei allerdings nicht der Dogmatismus, der ihm in der Diskussion unfreiwillig sogar den Anschein einer gewissen "Legitimität’ verleihen kann und vor dem er sowieso keine Angst zu haben braucht - sondern der Marxismus-Leninismus selbst. Bevor man also zur Bekämpfung des Dogmatismus übergehen kann, muß zuerst der Revisionismus konsequent bekämpft werden.

Der aus dem Marxismus herausgewachsene Revisionismus und der letztlich unbewegliche (oder auf sich selbst zurückfallende) Dogmatismus sind zweifellos zwei gegensätzliche, einander bedingende, vor allem aber negative Erscheinungen innerhalb kommunistischer Parteien - sie sind der kommunistischen Kraft und ihren Zielen in jedem Falle abträglich. Während Dogmatismus jedoch lediglich ein Bremsklotz ist, den man lösen kann, ein lästiges Übel, dessen Reste man durchaus zu überwinden vermag, stellt der Revisionismus für kommunistische Parteien qualitativ eine ungleich größere Gefahr dar, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr effektiv gebannt werden kann und in der Folge - früher oder später - unweigerlich die Zerstörung des Marxismus-Leninismus als Wissenschaft in der Partei bedeutet. Dieser Zerstörung folgt lediglich noch ein tiefer und jäher Sturz; in sozialistischen Ländern in die Konterrevolution, im Kapitalismus in die seichte parlamentarische "Demokratie’ - und damit in die Bedeutungslosigkeit. Dogmatismus wird immer wieder entstehen - solange der Revisionismus existiert. Revisionismus wird es solange geben, solange der Marxismus-Leninismus und Bedingungen existieren, welche es dem Revisionismus erlauben, sich in marxistisch-leninistischen Parteien einzunisten und zu wachsen. Die Lösung dieses Problems kann aber nun nicht sein, "Marxismus-Leninismus abzuschaffen’, um den Revisionismus auszutrocknen, denn mit der "Beseitigung’ des Marxismus-Leninismus entzöge man sich selbst, der Partei der Arbeiterklasse, die wissenschaftliche Basis und gleichzeitig eine klare Perspektive, die einzig sichere und vernünftige Grundlage zur Überwindung der bestehenden Verhältnisse. Was also bleibt? Die einzige Möglichkeit kann nur darin bestehen, die Methodologie des Revisionismus zu entlarven und seinen ideologischen Hintergrund dialektisch zu bekämpfen, bis seinen ökonomischen Wurzeln das Wasser entzogen ist. Wirksam kann dies nur vom Boden des Marxismus-Leninismus aus geschehen.

Revisionismus ist getragen von Opportunismus und schafft sich, solange er politisch aktiv bleibt, ein Ventil im Reformismus. Auf eine revolutionäre Arbeiterpartei wirkt der Revisionismus wie eine (von vielen häufig viel zu spät erkannte) Infektionskrankheit, die sich auf parasitäre Weise marxistischer Terminologie bedient, den gesamten Organismus schwächt und schließlich das zentrale Nervensystem erfaßt. In Zeiten verbreiteter Unsicherheit und Verwirrung, scheinbarer Stagnation oder großer Rückschläge ist der Revisionismus besonders virulent; er beeinflußt in der einen oder anderen Form alle Mitglieder der Partei, die entweder (langsamer oder schneller) auf "seine Seite’ gezogen werden oder gezwungen sind, gegen ihn zu Felde zu ziehen. Notwendigerweise werden Marxisten-Leninisten sich zunächst nicht auf eine Randerscheinung wie den Dogmatismus stürzen, dem es sicherlich an Dialektik mangelt, welcher jedoch einmal allgemein anerkannte Prinzipien des Marxismus-Leninismus, seine wissenschaftlichen Grundlagen keineswegs zur Disposition stellt - das bringt nur der Revisionismus fertig. Marxisten-Leninisten werden sich daher vornehmlich auf die konsequente Beseitigung von Opportunismus, Reformismus und Revisionismus konzentrieren müssen.

Aus diesem Grunde stimme ich mit all jenen Genossen überein, die den Revisionismus als Hauptgefahr innerhalb der kommunistischen Bewegung erkannt haben.

Antwort an den Genossen Henning Böke

In meiner (Einzelperson - Name inzwischen hinzugefügt - hielt ich nicht für wichtig - spreche auch nicht im Namen irgendeiner "Opposition’ oder spezifischen Strömung) Kritik an den Vorstellungen bzw. häufig gar nicht vorhandenen Vorstellungen der Gen. Hager kann ich - auch nach wiederholter selbstkritischer Überprüfung und beim besten Willen - keine Anzeichen von "Dogmatismus’ entdecken.

Ich freue mich, daß Du, Genosse Böke, N. Hagers Vorstellungen auch nicht gerade teilst - vor allem aber freue ich mich, daß Du mit mir in der Warenproduktions- und Marktfrage unter den entsprechenden Bedingungen in einem künftigen Sozialismus übereinstimmst, denn das ist zur Zeit wirklich nicht selbstverständlich!

Deine Kritik bezog sich daher offenbar in erster Linie auf den modus operandi meines Beitrags (der zunächst nur eine allgemeine Kritik darstellte und durchaus keine "Glaubenssätze’ verbreiten sollte) sowie auf die Standpunkte, von denen aus ich argumentierte. Mein Standpunkt ist allerdings der "marxistisch-leninistische’. In einer Zeit, in der alles (außer Profit) in Frage gestellt wird, muß zwangsläufig (wenn noch irgend etwas weitergehen soll) die Negation dessen und die Umkehrung erfolgen, damit wir in eine neue Zeit kommen können. Nina Hager stellt, obwohl sie sich verbal zu den "Lehren von Marx, Engels und Lenin’ bekennt, dennoch fast alles in Frage, was diese Lehren überhaupt ausmacht.

Zunächst sehe ich in einer allgemeinen Verteidigung der Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus oder der Aufdeckung von Mängeln oder Schwächen nichts Anstößiges oder Verwerfliches, nicht zwangsläufig etwas "Dogmatisches’ - erst recht nichts "Altgläubiges’, "Quasi-Kirchliches’ oder "Quasi-Religiöses’. In meiner sehr kurzen und sehr grundsätzlichen Kritik an Nina Hager war ich weit entfernt, "Rezepte für die Garküche der Zukunft’ geben zu wollen - ich sehe allerdings auch nichts, was in meinem Text darauf hinweisen würde. Niemand kann solche "Patentrezepte’ entwerfen; und jeder, der dies versucht, verläßt den Boden der Wissenschaft (wenn er sich je auf ihm bewegte) und wird zum metaphysischen Schwätzer. Der von Dir apostrophierte Marxismus-Leninismus erhob aufgrund seines Selbstverständnisses niemals einen solchen Anspruch, was ich in meinen Texten zu vermitteln versucht habe. Es geht in der Regel auch nicht um eine "Vorhersage’ der Zukunft, sondern darum, durch die Analyse von Herkunft und Gegenwart die Zukunft praktisch umzugestalten. Dies ist der eigentliche Sinn des wissenschaftlichen und revolutionären Marxismus-Leninismus.

Es wird allerdings behauptet, ich "warte’ auf eine extrem polarisierte Klassenstruktur. Das ist (wenigstens bei mir) durchaus nicht der Fall, wie überhaupt Kommunisten nicht glauben und warten, sondern vielmehr denken und handeln (und zwar in dieser Reihenfolge). Sicher kennst Du Marx in- und auswendig; dennoch muß ich in diesem Zusammenhang eine Passage aus dem "Achtzehnten Brumaire’ in Erinnerung rufen: "Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!" Ich denke, daß diese Aussage nicht nur für das neunzehnte Jahrhundert gilt, sondern auch heute noch Gültigkeit hat, nur in einer neuen, noch viel größeren Dimension. Wenn ich also als "Altgläubiger’ auf eine extrem polarisierte Klassenstruktur zu sprechen komme, so stelle ich mir darunter nicht unbedingt bewaffnete Fabrikarbeitermassen vor, die dem Hungertode nahe, mit aufgepflanzten Bajonetten die Villen der Kapitalisten umzingeln, in denen sich letztere vor Angst verschanzt haben, sondern damit ist allgemein eine politisch derart zugespitzte Situation gemeint, in der die grundlegenden Interessen einer hinreichend großen Mehrheit der Bevölkerung (und das sind in der Hauptsache die Werktätigen, die Lohnarbeiter sowie das Arbeitslosenheer) für jeden erkennbar in einen innerhalb dieser Gesellschaft unlösbaren Widerspruch mit denen der Repräsentanten und Eigentümer des Kapitals - insbesondere der Produktionsmittelbesitzer - geraten sind. In einer solchen Situation, die in eine revolutionäre hinüberwächst, stellt sich in der Tat nur noch die Frage "Wer - Wen?’ - und diejenige nach einer neuen Gesellschaftsordnung. Wie diese Frage dann letztlich entschieden wird, hängt selbstverständlich von den jeweiligen Voraussetzungen und Bedingungen ab. Kein Mensch bestreitet übrigens, daß es sich dabei um eine abstrakt-theoretische Projektion handelt; ebensowenig kann allerdings bestritten werden, daß sie von durchaus realen Verhältnissen und Entwicklungen hergeleitet ist und außerdem auf geschichtlichen Erfahrungen beruht. Sie völlig aus den Augen zu verlieren - oder gar vollkommen auszuschließen - heißt jedoch nichts anderes, als sich von der Geschichtswissenschaft, von der Lehre des Klassenkampfes und seinen ökonomischen Ursachen sowie von der Revolutionstheorie einschließlich ihrer Dialektik zu verabschieden. Wer dies tut, muß nur noch eins wissen, nämlich daß er den Boden einer Wissenschaft verläßt, die nebenbei proletarische Revolutionen theoretisch antizipierte, welche im XX. Jahrhundert tatsächlich stattgefunden haben. Ist eine diesbezüglich andere, in sich schlüssige Theorie entwickelt worden, möge man damit herausrücken und die sie begründenden Quellen, ihre Erkenntnisse, die entsprechenden Erfahrungen und Verallgemeinerungen offenlegen.

Wer jedoch - wie Nina Hager - als stellvertretende Vorsitzende einer Partei, die sich selbst kommunistisch nennt und für sich als wissenschaftliche Grundlage die Lehren der unbestreitbar wichtigsten kommunistischen Theoretiker in Anspruch nimmt, erwartet, daß die Mitglieder dieser Partei in Jubelgesänge und Hochrufe ausbrechen, wenn das Ziel der sozialistischen Revolution und der Aufbau des Kommunismus ganz allgemein zur Disposition gestellt wird, ist tatsächlich einfach "schief gewickelt’. Was sollte das werden - ein Test? Das denke ich nicht. Es scheint mir eher der Versuch zu sein, etwas Grundsätzliches in Frage zu stellen, um hinterher den Genossen leichter eine neue "Reformpolitik’ unterjubeln oder "andienen’ zu können, welche letzten Endes praktisch unvermeidliche Revolutionen (wie immer diese auch aussehen werden) theoretisch ersetzen soll. Und ganz selbstverständlich ging ich davon aus, daß dieser Sachverhalt für einen jeden revolutionären Kommunisten eine Provokation bedeutet. Ich wiederhole mich hier, denn wer dies nicht sieht, hat meiner Meinung nach die Tragweite des Problems offenbar noch nicht ganz erfaßt. Bevor man allerdings Marxisten-Leninisten mit "dogmatisch-gereizten’ (und revisionistisch angehauchten) Attributen wie "quasi-religiös’, "quasi-kirchlich’ etc. belegt, sollte man sich vielleicht fragen, ob derartige Beschreibungen nicht eher auf jene zutreffen, die zwar die Namen von Marx, Engels, Lenin ... ständig im Munde führen, blind aus dem Kontext herausgerissene Passagen wiederkäuen, die sie für ihre dogmatisch-revisionistischen Zwecke mißbrauchen (wie jüngst bei anderen Anlässen geschehen), deren Politik sich in der Praxis aber gänzlich anders gestaltet, auf jene also, die - weit vom Marxismus-Leninismus und der Realität entfernt - ausschließlich Lippenbekenntnisse zelebrieren.

Wenn die chinesische KP-Führung Mitte der 50er Jahre bereits den Revisionismus der damaligen Führung der KPdSU erkannte und kritisierte, so kann ich der KP Chinas nicht den Vorwurf machen, daß sie sich grundsätzlich geirrt hätte (ich bin deswegen noch lange kein "Maoist’ - erst recht kein Trotzkist und deswegen auch nicht gerade begeistert, wenn man mir dennoch französische Trotzkisten als hervorragende "undogmatische’ Revolutionäre "andient’, die aufgrund ihrer erhabenen "Integrität’ gewaltige Erfolge bei "sozialen Massenbewegungen’ feiern). Ich hoffe nicht, daß es diese Potentiale sind, die in unsere Partei eingebracht werden sollen.

Jeder Genosse mag sich also selbst die Frage beantworten, warum Kommunisten gebetsmühlenartig mit Termini wie "halsstarrig’, "altgläubig’, "dogmatisch’ "sektiererisch’ u.s.w. überschüttet werden, wenn es absolut notwendig wird, Marxismus-Leninismus gegen beabsichtigte oder unbeabsichtigte Verfälschungen, Verdrehungen und abwegige Spekulationen, gegen den Entzug sowohl seines revolutionären Moments als auch seiner wissenschaftlichen Grundlagen (welche beiden Teile nicht voneinander zu trennen sind) konsequent zu verteidigen, ob es vielleicht der gemeinsamen Sache nicht eher abträglich ist, derartige Schmähungen leichtfertig zu übernehmen - oder sollte ich vielleicht sagen - "nachzubeten’? Es kann sich dabei jedenfalls nicht um etwas "Substantielles’ handeln, das beizusteuern sich lohnte.

Sogenannte Theoretiker, die sich eine "geplante Marktwirtschaft’ oder einen "marktwirtschaftlichen Sozialismus’ vorstellen, oder vielleicht auch eine reale Entwicklung in Richtung "Ultraimperialismus’ in Betracht ziehen, dürfen natürlich schon deshalb nicht als "Dogmatiker’ tituliert werden, weil es keine einzige ernstzunehmende Theorie gibt, die ihre Vorstellungen stützen könnte. Soweit es solche "Theorien’ gab (und die sie erzeugende Strömung ist bekannt), sind sie bereits widerlegt, und zwar einerseits durch den Marxismus-Leninismus, andererseits durch die Geschichtspraxis, wobei diese Koinzidenz durchaus nicht erstaunlich ist. Es können sich somit hier keinerlei Anknüpfungspunkte für unsere Partei ergeben; diese Wege sind tatsächlich "abgeschnitten’.

Was nun die "reine Lehre’ angeht, so war es der Marxismus, welcher feststellte, daß die Bedingungen, unter denen Produktion stattfindet, sich ständig ändern - also auch im XX. und XXI. Jahrhundert sich ändern werden, daß folglich die gesellschaftlichen Verhältnisse ebenfalls Veränderungen unterworfen sind, mithin die Art und Ausdehnung der Subsumtion der Arbeit unter das Kapital. Dies beseitigt jedoch (wie wir wohl einig sein werden) keineswegs den grundlegenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, berührt weder das Wertgesetz, noch die bloße Existenz der beiden Hauptklassen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Nina Hager sprach jedoch von grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen, denen grundlegende ökonomische Veränderungen vorausgegangen sein müßten. Dies bestreite ich allerdings vehement. Derartige Behauptungen geben Anlaß zu den wildesten "Theorien’ und Spekulationen, bei denen dann mal eben auch die Arbeiterklasse und sicherlich auch die der Kapitalisten einfach so (wie für Sozialdemokraten) "verschwinden’ kann. "Die Bedingungen, unter denen die Menschen produzieren und austauschen, wechseln von Land zu Land, und in jedem Lande wieder von Generation zu Generation. Die politische Ökonomie kann also nicht dieselbe sein für alle Länder und für alle geschichtlichen Epochen. [...] Die politische Ökonomie ist somit wesentlich eine h i s t o r i s c h e Wissenschaft. Sie behandelt einen geschichtlichen, das heißt einen stets wechselnden Stoff; ... [...] Wobei es sich jedoch von selbst versteht, daß die für bestimmte Produktionsweisen und Austauschformen gültigen Gesetze auch Gültigkeit haben für alle Geschichtsperioden, denen jene Produktionsweisen und Austauschformen gemeinsam sind." ("Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft ("Anti-Dühring’), BML, S. 136-137, [Herv. d. Verf.])

Warum nach über 40 Jahren revisionistischer Praxis (i. e. ökonomischer Rückwärtsentwicklung, [nicht "Stagnation’]) und revisionistischer Politik die Liquidierung der Sowjetunion auf keinen nennenswerten Widerstand mehr in der Bevölkerung stieß, ist eine derart komplexe Frage, daß man sie in der hier gebotenen Kürze nicht einmal annähernd erschöpfend erörtern kann. Deshalb würden solche Ausführungen auf jeden Fall unvollständig bleiben und eine Pauschalantwort falsch ausfallen. Falls der Genosse es wünscht, können wir gerne eine Diskussion darüber führen.

In einem Punkte gebe ich der "undogmatisch-linken’ Kritik Recht, nämlich wenn sie entschieden erklärt, daß der Revisionismus aus "dem eigenen Stall’ hervorgegangen sei. Er entstand Ende des 19. Jahrhunderts (bereits vorher schon gab es Ansätze dazu), lebte z. B. in der II. Internationale auf, in den kommunistischen Parteien Westeuropas, schließlich vollendet konterrevolutionär in einem Gorbatschow und seinen Spießgesellen. "Doch als der Marxismus alle einigermaßen in sich geschlossenen, ihm feindlichen Lehren verdrängt hatte, begannen Tendenzen, die in diesen Lehren zum Ausdruck kamen, nach anderen Wegen zu suchen. Formen und Anlässe des Kampfes änderten sich, doch der Kampf selbst ging weiter. Und das zweite Halbjahrhundert der Existenz des Marxismus begann (...) mit dem Kampf einer dem Marxismus feindlichen Strömung i n n e r h a l b des Marxismus." (W.I. Lenin, "Marxismus und Revisionismus’, Ausgew. Werke, Bd. I, S. 84, [Herv. d. Verf.]) Scherzfrage: Sollte man sich diesbezüglich also vielleicht eher bei Marx selbst beschweren?

Was das "Recht auf Arbeit’ für jeden (und damit natürlich auch die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft und Kreativität bestreiten zu dürfen) betrifft, so ist dieses Menschenrecht im Kapitalismus nicht verwirklicht und kann dort auch nicht realisiert werden. Zwischen der Auffassung von der Arbeit als einem ersten Lebensbedürfnis und der sozialistischen Forderung nach einem Recht auf Arbeit besteht allerdings kein Widerspruch, ebensowenig wie zwischen dem Recht auf Arbeit und der Abschaffung der Lohnarbeit.

Wer wirklich eine "geschichtsphilosophische Abhandlung’ (im wahrsten Sinne des Wortes) bewundern möchte, der sei auf den Beitrag "Elf Thesen zum Marxismus dieser Zeit’ verwiesen; dort kann man eine Bearbeitung des Marxismus erleben. Und jeder (der das Ganze ins Deutsche übersetzt hat) mag sich - wie überall - sein eigenes Urteil darüber bilden.

Auch ich bedauere den derzeit hohen Altersdurchschnitt der DKP, bin aber nicht der Auffassung, daß dies an den "Orthodoxen’ liegt - ganz im Gegenteil. Andererseits schätze ich die Erfahrungen der älteren Genossen sehr und bin durchaus bereit, von ihnen zu lernen.

-----------------------

Der Marxismus-Leninismus läßt sich durchaus entwickeln, darauf besteht er sogar. Die Lehre des Marxismus-Leninismus läßt sich jedoch "an sich’ nicht verbessern (genauso könnte man versuchen, die Geometrie zu verbessern), sie braucht nicht "korrigiert’, "bearbeitet’ noch "reformiert’ zu werden, sie muß auch nicht "rekonstruiert’ oder "angepaßt’ werden - wozu auch? Marxismus-Leninismus läßt sich vor allem anwenden - und um die bestehenden Verhältnisse analysieren und ändern zu können, muß man ihn anwenden. Wer die Vergangenheit erklären, die bestehenden Verhältnisse analysieren und die Zukunft gewinnen will, der kommt ohne Marxismus-Leninismus nicht aus. Zum Schluß möchte ich die Feststellung eines deutschen Universitätsprofessors in Erinnerung bringen, den Engels in seinem Nachtrag zum III. Band des "Kapital’ zu Worte kommen läßt - nämlich Werner Sombart. Dieser erklärt, daß die Kritik des "Marxschen Systems’ nicht in einer Widerlegung bestehen könne, "mit der mag sich der politische Streber befassen" - , sondern nur in einer Weiterentwicklung.

Seither haben ganze Heere von "politischen Strebern’ in aller Welt - auch und gerade innerhalb kommunistischer Parteien - häufig unter dem Vorwand einer von ihnen so genannten Weiterentwicklung wissenschaftliche Erkenntnisse zu widerlegen versucht, die nun einmal hauptsächlich und untrennbar mit den Namen Marx, Engels und Lenin verbunden sind.

Karlheinz Groß