Brief von Egon Krenz und Fritz Streletz an Frank-Walter Steinmeier

Egon Krenz, am 9. Oktober 1989 Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, und Fritz Streletz, Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, haben am 28. September einen offenen Brief an Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier verfasst:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

in wenigen Tagen jähren sich zum 30. Mal die Ereignisse vom 9. Oktober 1989 in Leipzig.

Vor zehn Jahren hielt Bundespräsident Horst Köhler auf einer Veranstaltung in Leipzig die Festrede, in der er unter anderem ausführte: "... Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt."

Ganz offensichtlich wurde der Herr Bundespräsident falsch informiert.

Als damals Verantwortliche können wir aus eigenem Wissen und auf der Grundlage von geltenden Beschlüssen und Befehlen feststellen: In oder vor der Stadt gab es keine Panzer, auch existierte zu keiner Zeit ein Befehl zum Schießen. Weder wurden Herzchirurgen zur Behandlung von Schusswunden eingewiesen noch Leichensäcke bereitgelegt.

Die DDR-Führung hatte im Herbst 1989 von Anfang an darauf gesetzt, dass politisch entstandene Probleme auch nur politisch und ohne Gewalt gelöst werden dürfen.

Im Interesse der historischen Wahrheit bitten wir Sie, Herr Bundespräsident, den friedlichen Verlauf der Herbstereignisse 1989 in der DDR zum Anlass zu nehmen, um die falschen Aussagen von 2009 richtigzustellen.

Mit freundlichen Grüßen, Egon Krenz und Fritz Streletz

Aus: junge Welt Ausgabe vom 11.10.2019