Fehler verzeihen?

Sind es gerade die besinnlichen Weihnachtstage, die einmal im Jahr Freund und Feind in Kirchen beim Krippenspiel zusammenführt, dass Katja Kipping meint, Ost- und Westdeutsche sollten sich Fehler verzeihen. Wer soll wem was verzeihen? Haben sich Normalbürger, Lohnabhängige, Arbeitslose, Friedensbewegte, Linke oder Kommunisten Ost und West etwas zu verzeihen?

Was könnten diese sich zu verzeihen haben, außer, dass die einen naiv und in ahnungsloser Erwartung im Menschenrechtsjubel die Klassenfrage, den real existierenden Klassengegner nicht mehr auf der Rechnung hatten? Die anderen, dass sie nicht minder unwissend, mit Vorurteilen, falschen Vorstellungen, Illusionen bis antikommunistischen Denkhaltungen aufeinandertrafen. Enttäuschung gab es auf beiden Seiten, Euphorie und Hoffnungen ebenso auf beiden Seiten. Wenn eine linke Führungspersönlichkeit Verzeihen und Versöhnen in dieser fast religiösen Botschaft von sich gibt, so scheint die sogenannte Wiedervereinigung allenfalls von einigen Missverständnissen getrübt gewesen zu sein.

Die damalige Bundesregierung unter Gerhard Schröder hatte beschlossen, die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zu reformieren und setzte dafür die Hartz-Kommission ein. Diese entwarf dann einen vierstufigen Plan, um die staatliche Arbeitsvermittlung von Grund auf zu verbessern. Der Plan fing 2003 mit Hartz I an und wurde 2006 mit Hartz IV vollständig umgesetzt. Zum Versprechen der schnelleren Vermittlung in bessere Jobs kam die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Im Herbst 2004 erfolgte die endgültige, dritte Lesung der Gesetzentwürfe im Deutschen Bundestag. Mit den Stimmen der Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen wurde es mehrheitlich verabschiedet und trat zum 1. Januar 2005 in Kraft.

Über einen Kapitalismus unserer Tage - in seinem Wesen nach folgerichtigen Entwicklung über die drei Jahrzehnte - den Mantel der Versöhnung, des Verzeihens zu legen, sich in allgemeinen Menschenrechts-, Gerechtigkeits- und Liebhabbekundungen zu ergehen, wer braucht dafür eine Linkspartei?

Das kann jede Kirche, jede Religion weit besser und sogar für den einzelnen noch tröstender. Danke, Frau Kipping!

Aus: UZ, Ausgabe 03.01.2020 (Leserbrief)